Sollte man seinen Guru immer als das Höchste betrachten?

Sri Chinmoy:
Einmal besuchte Nigamananda die Kumbha Mela, Indiens berühmtestes religiöses Fest, an dem wahrhaft zahllose Menschen teilnehmen. Er war überglücklich, dort seinen Meister Swami Satchidananda zu sehen. Jede Mela wird von einem anderen Meister geleitet, und dieses Mal war es der große Meister Shankaracharya, Satchidanandas Guru, der die Mela leitete. Jedermann war voller Verehrung für Shankaracharya, der neben Satchidananda saß.
Als Nigamananda ankam, verbeugte er sich zuerst vor seinem Meister und dann verbeugte er sich vor Shankaracharya. Alle waren schockiert. Wie konnte er sich zuerst vor Satchidananda verbeugen, wenn doch Shankaracharya direkt neben ihm saß? Einige Leute sagten zu Nigamananda: „Du bist so ein Narr! Weißt du nicht zu unterscheiden?“
Nigamananda antwortete: „Ich weiß sehr wohl zu unterscheiden. Ich sage euch, niemand kann höher sein als der eigene Guru. Mein Guru ist der Höchste für mich und wird es immer bleiben. Deshalb tat ich das Richtige, als ich mich zuerst vor ihm verbeugte.“
Als er dies hörte, schenkte Shankaracharya Nigamananda ein breites Lächeln und sagte zu ihm: „Du hast Recht, mein Sohn, du hast Recht.“ Dann stellte er Nigamananda einige spirituelle Fragen, die Nigamananda vollkommen richtig beantwortete. Darauf sprach Shankaracharya zu Satchidananda: „Was tust du? Warum bittest du deinen Schüler nicht, eigene Schüler anzunehmen und zu helfen, die Menschheit zu erleuchten? Ich sehe deutlich, dass er bereit dafür ist.“
Daraufhin erklärte Satchidananda vor Shankaracharya und allen Suchern um sie herum: „Mein spiritueller Sohn Nigamananda hat Gott verwirklicht. Von nun an wird er Schüler annehmen und ihren Geist erleuchten und ihre Herzen erfüllen.“
Zu Beginn der Reise ist der Meister der Fährmann, das Boot und der Fluss. Am Ende der Reise wird der Meister selbst zum Ziel. Ein Anfänger-Sucher sieht den Meister als das Boot. Wenn er die Schranke des Verstandes überwindet, sieht er den Meister als den Fährmann. Wenn er sein ständiges Einssein mit dem Meister begründet, sieht er den Meister als den Fluss. Und wenn er zum vollkommensten Instrument des Meisters wird, sieht er den Meister selbst als das Ziel. Und wenn die Stunde für den Schüler schlägt, muss der Schüler auch die Rolle eines Meisters spielen, denn der Fortschritt in der Welt des Selbst-Gebens und des Gott-Werdens muss weitergehen.